Im Besonderen das an den Haaren Herbeigezogene sehen

Berliner S-Bahn © 2015 Ulrich Dregler/pixabay

Das Besondere stellvertretend für das Allgemeine zu verwenden, gehört zu einem wichtigen journalistischen Stilmittel beispielweise in Berichten, Features und Reportagen. Dass man im Besonderen dagegen nicht zwingend das Allgemeine sehen kann, sondern Gefahr läuft überzuinterpretieren, zeigt ein Artikel in Der Zeit.

Ulrike März hat in Der Zeit über den Fall einer eskalierten Auseinandersetzung zwischen einem Schwarzfahrer und einem Fahrkartenkontolleur in der Berliner S-Bahn einen stilistisch sehr ansprechenden Bericht geschrieben. Darin versucht sie, aus der weitgehend unklaren Sachlagen einen spannenden Artikel zu machen – was ihr auch gelingt.

Es geht um einen Fall von einem Mittwochvormittag im November 2014. In einer Berliner S-Bahn wird der Rentner Bernhard R. ohne gültigen Fahrschein erwischt und nach einer verbalen Auseinandersetzung von Max M., dem Chef der Fahrkartenkontrolltruppe, am Arm gepackt und aus dem Zug eskoritert, um seine Personalien aufzunehmen. Auf dem Bahnsteig kommt es zu einer Situation, die völlig banal oder hochdramatisch sein könnte, je nachdem, wem man glaubt:

Während Max M. am Bahnsteigrand die Daten des Schwarzfahrers erfasst, macht dieser – just als hinter dem Kontrolleur eine S-Bahn einfährt – plötzlich mit ausgestreckten oder schlenkernden Armen einen Schritt auf ihn zu. Max‘ Kollegin Sandra K. glaubt, Bernhard R. wolle ihren Chef vor die S-Bahn stoßen und geht dazwischen.

Im Ergebnis ist nichts passiert. Die Polizei wird gerufen. Die Mordkomission ermittelt. Der Fall landet vor Gericht.

Das Besondere gut erfasst

Aus diesem Stoff kann man eine schlichte Magazinmeldung oder einen kleinen Zeitungsbericht mit Fünf-Absatz-Struktur bauen. Aber von einem Zeit-Artikel erwartet man mehr und bekommt das von Ulrike März auch. Sie arbeitet die Charaktere der drei Beteiligten – Max M., Sandra K. und Bernhard R. – heraus und beschreibt sie geschickt anhand deren Sprachstils:

Die Kommunikationsstile der zwei Männer sind zu gegensätzlich. Max M. verknappt Sätze auf ihr grammatisches und inhaltliches Minimum. Er sagt: „Früher, Linksaußen“, wenn er mitteilen möchte, dass er in der Jugend ein passionierter Fußballspieler war. Bernhard R. hingegen quasselt ins Uferlose. Wer ihn nach seiner Postadresse fragt, erfährt auch gleich, wer neben, unter und über ihm wohnt, wer jüngst in die dritte Etage einzog und von welcher Firma der Möbeltransporter geliehen war. Max M. presst sich Worte ab, aus Bernhard R. stürzen die Wortfontänen nur so heraus.

Und über die Hauptzeugin Sandra K., „die unverständlich nuschelt, meistens aber stumm nickt und verlegen kichert“, schreibt März:

Vor die Aufgabe gestellt, sich in einem Gerichtssaal zu erheben und eine kleine Pantomime darzubieten, zieht sich Sandra K. wie ein Igel zusammen. „Sie können es ja im Sitzen vormachen“, bietet der Vorsitzende an, und Sandra K. demonstriert, wie sie mit ihrem Arm von unten gegen den von Bernhard R. fuhr und seinen Hieb ins Leere lenkte.

Das sind gute Beobachtungen und Beschreibungen, welche die Personen, denen wir selbst nicht begegnet sind, anschaulich werden lassen.

Ulrike März leistet hier viel angesichts eines Falles,

  • von dem der Staatsanwalt erst sagt, „der Vorwurf des versuchten Mordes [sei] nicht auszuschließen“, wie März paraphrasiert,
  • der angesichts der Wortkargkeit des Beinahe-Geschädigten, der Unsicherheit der Hauptzeugin und der ausweichenden Redeschwälle des Angeklagten – und des somit insgesamt unklaren Sachverhaltes – in sich zusammenbricht,
  • in den Plädoyers zu einer „vorsätzliche[n] schwere[n] Körperverletzung“ schrumpft
  • und schließlich mit einer Verurteilung wegen „Bedrohung und Beleidigung“ endet.

Beim Allgemeinen vergriffen

Hier zu versuchen, die allgemeine Ironie des Falles und seiner juristischen Behandlung herauszuarbeiten, ist so gut gedacht wie gemacht worden. Dann aber versucht März, den Fall auf die allgemeinere Ebene einer aktuellen gesellschaftlichen Befindlichkeit hin zu interpretieren, indem sie Parallelen für das in diesem Falls vorgeblich gezeigte Eskalationspotential aufzeigen möchte. Das misslingt.

Da ist erst einmal die im Vorspann des Artikels formulierte These: „Im Strafprozess zeigt sich etwas sehr Exemplarisches“, welche der Text nicht belegen kann. Wenn überhaupt, so wäre der Begriff ‚Prozess‘ hier metonymisch zu verstehen, denn März belegt am ehesten noch das Exemplarische in der Streitsituation auf dem Bahnsteig.

Zunächst moniert die Autorin die fehlende Zivilcourage der Mitfahrer, welche schon bei der verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Fahrkartenkontrolleur und dem Schwarzfahrer hätten einschreiten sollen:

Wo waren all die anderen? Die Gelassenen, Einlenkenden, Beschwichtigenden? Die Mitpassagiere im S-Bahn-Waggon, die merkten, dass die Stichflamme der Aggression hochschießt, und die versuchten, sie mit einem kleinen Witz, einer freundlichen Bemerkung wieder herunterzudrehen?

Man wird vielleicht drüber streiten können, ob diese zu irgendeiner Zeit – und nicht nur in Abhängigkeit von der individuellen Bereitschaft, sich einzumischen und allenthalben Frieden zu stiften, der zufällig Anwesenden – gegeben gewesen wäre.

Nun stellt die Autorin aber die eine kontrafaktische Behauptung auf, welche für die journalistische Interpretation der konkreten Situation und der gesamtgesellschaftlichen Befindlichkeit, in welcher diese stattfand, meines Erachtens zu weit geht: März vergleicht den tatsächlichen Streit nämlich damit, wie er sich fiktiv während der Fussballweltmeisterschaft nur vier Monate früher zugetragen haben könnte. Sie schreibt:

Dies wäre, im Juli 2014, die allseits versöhnliche Stimmung gewesen, in der ein Rentner in der S-Bahn mit Beleidigungen um sich wirft und ein zwanzig Jahre jüngerer, körperlich weit überlegener Kontrolleur ihn harsch am Oberarm packt. „Nun machen Sie doch mal halblang!“, hätte ein Fahrgast gerufen, und ein paar andere hätten zugestimmt. Je mehr öffentlichen Raum die Gelassenen für sich beanspruchen, je deutlicher sie sich einmischen, desto enger wird es für die Grundaggressiven und Grundfeindseligen.

Und dann steigert sie sich weiter in ihr erdachtes und nicht haltbares Gegensatzpaar hinein:

Aber im November 2014 hatte sich die Stimmungslage verdüstert. Der Bahnstreik zerrte an den Nerven. Und in Dresden formierte sich eine nationalistische, gegen die angebliche Islamisierung des Abendlands gerichtete Bewegung, die sich ab Dezember 2014 offiziell Pegida nannte und deren Überrumpelungseffekt auch auf ihren Ausdrucksformen aggressiver Vulgarität beruhte.

Von einer derart allgemeine Verdüsterung der Stimmungslage in der Republik, dass in Berlin plötzlich Fahrkartenkontrolleure und Schwarzfahrer bis hin zum angeblichen (aber gerichtlich nicht bestätigten) Mordversuch aufeinander losgehen, kann nun wirklich nicht die Rede sein.

Gelungene Diagnose neben Scheinkorrelation

Nicht optimal, aber sinnvoller, naheliegender – wenn auch natürlich weniger überraschend und den Leser lockend – wäre es gewesen, den Fall auf den allgemeinen Autoritätsverlust früherer Autoritätspersonen hin zu deuten, als ihn gleich als Beispiel allgemeiner gesellschaftlicher Verrohung zu sehen. Immerhin versucht Ulrike März, das aufgetretene Ungleichgewicht zwischen Sachverhalt und Deutung noch hinzubiegen:

Selbstredend hatte der Vorfall um Max M. und Bernhard R. nicht das Geringste mit Politik zu tun. Aber er vollzog sich nicht im luftleeren Raum, sondern in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, die dem Hass in den vergangenen zwei Jahren zu einer beängstigenden Alltäglichkeit verhalf.

Aber dadurch ist die journalistische Verunreinigung nicht mehr abzubiegen. Und selbst wenn, würde es immer noch gegen den Tonfall und Blickwinkel der restlichen Geschichte verstoßen, welche auf schrullige Charaktere und einen absurden Fall, ja eine juristische Posse fast, aufbaut. Wie wäre es also mit einem Aufhänger zum Charakter oder Redestil oder – öder – zur Unzuverlässigkeit von Zeugen gewesen. Oder – analog zu Kleist – mit einer Betrachtung „Über das allmähliche Versagen der Erinnerung beim Reden“?

Sehr gut zum Fall, aber auch nicht so sehr zum Tonfall passt folgende Diagnose:

Der Rentner sah im Kontrolleur den Stellvertreter jener repressiven Obrigkeit, die schon zu DDR-Zeiten auf sein Leben drückte, der Kontrolleur im Rentner den Stellvertreter jener renitenten Fahrgastfraktion, die ihm das Leben doppelt vergiftet.

Es mag sein, dass die beiden da ihren Lebensfrust aneinander ausgelassen haben, dass man von 848 Euro Rente nicht auch noch Bußgeld bezahlen oder nicht in einem Beruf arbeiten möchte, in welchem man nur angefeindet wird. Solcher Lebensfrust reicht jedoch auch in großer Zahl noch nicht zur gesellschaftlichen Sprengkraft.

Und deshalb wird der Fall auch bei weitem nicht „in nuce“ zu einem exemplarischen Fall für die Entwicklung unserer Gesellschaft. Hier überinterpretiert Ulrike März. Der Fall hat nichts zu tun mit Autoritätsverlust, Fremdenhass, zunehmender – sofern es das gibt – gesellschaftlicher Entfremdung und all den anderen krebsgeschwürartigen Zentripetalkräften, welche an unserer Gesellschaft nagen.

Kleiner Verlust, viel Gewinn an Relevanz

Deren Quelle bringt Ulrike März dennoch in einer anderen gelungenen Diagnose auf den Punkt:

Sein [des Hasses in Dresden und in Zwickau und im Internet] Entstehen aber hat eine Grundbedingung: im Unbekannten nicht die Person zu sehen, sondern nur den Stellvertreter einer verhassten Struktur.

Ja, das ist richtig. Aber was sie hier als „Struktur“ bezeichnet, ist in Wirklichkeit vor allem Weltanschauungen und empfundene Gruppenzugehörigkeiten wie auf der Basis von Ethnien und erst dann Organisationsformen eines Staates, von welchem man sich nicht vertreten und welchem man sich nicht mehr zugehörtig fühlt.

Die Autorin selbst – oder wenigstens die Redaktion Der Zeit – hätte sich hier einen alten Grundsatz zugutekommen lassen sollen, dessen eigentlichen Ursprung ich nicht kenne, den mir aber Asta von Schröder beibrachte: „Kill your darlings“ – und sei es auch deine Lieblingsidee oder deine Lieblingsstelle in einem Text: Wenn sie dem Textganzen schadet, lösche sie.

Und das gilt eben auch, wenn es uns so einen guten Gedanken gekostet hätte, dass viele in unserer Gesellschaft nicht mehr in der Lage sind, im Unbekannten einfach nur eine Person zu sehen.

Verwendetes Bild: © 2015 Ulrich Dregler/pixabay.

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