Anon: Wie lange noch sind wir anonym?

Eine Person steht in einem Atrium. Die Augmented Reality der Ansicht gibt persönliche Daten zu dieser Person preis. Es handelt sich um eine Escort-Dame. Es werden detaillierte Angaben zu ihrem Angebot gemacht. Darüber steht: "Anon" | © Claus R. Kullak | K5 International | crk-resrhetorica.de

Alles, was du siehst, wird aufgezeichnet. Alles, was du siehst, wird computergestützt erweitert und kommentiert. „Anon“ erzählt von einer Welt, in die wir hineinwachsen.

„Anon“ (Niccol, 2018) auf Netflix gibt sich als Slow-burn-SciFi-Whodunnit in einer überwiegend grauen Farbpalette mit atmosphärischem Soundtrack. Das gefällt mir gut.

Alles was Menschen sehen, wird in „Anon“ aufgezeichnet und in einer als „Ether“ bezeichneten Cloud gespeichert. Möglich wird das durch ein Implantat, das „Minds Eye“ genannt wird, das auch die Funktion einer erweiterten Realität (Augmented Reality) bietet. Auf die Lebenszeitaufnahmen im Ether haben Polizisten wie Sal Frieland Zugriff, um Ermittlungen anzustellen.

Doch ein aktueller Mordfall ist anders: Die mutmaßliche Täterin hat die Aufzeichnungen gehackt und keine Spur hinterlassen. Sie hat außerdem die Möglichkeit, Menschen in Echtzeit falsche Wahrnehmungen unterzuschieben.

Die Vorstellung der Wahrnehmung der Welt durch das menschliche Auge als alles umfassende Augmented Reality mit Identifizierungen, Kommentaren, Hintergrundinformationen, Schaubildern und Werbung (sowie lückenloser Aufzeichnung) ist schon rechtschaffen gruselig. Zugleich macht sich das natürlich hervorragend im Filmbild: weiße Einblendungen, die überall aufspringen (siehe Artikelbild).

Die Filmsets sind gut gewählt. Das Polizeirevier ist klobiger Sichtbeton. Sonst gibt es viel Schwarz, Metall und Naturstein. Alles wirkt kalt und seelenlos. Einzig die Wohnung der Hauptfigur Sal wird in Sepiatönen gezeigt. Einen privaten Rückzugsraum gibt es in dieser Welt jedoch nicht. Auch hier wird alles aufgezeichnet. Privatsphäre gibt es nur durch Hacks. Ich deute die Wärme der Sepiatöne daher eher als einen Wunsch – etwas, das die Sehnsucht nach einer heileren Vergangenheit ausdrückt.

Tiefe der Welt von „Anon“ | Spoiler

Insgesamt ist der Film überwiegend aus ästhetischen Gründen sehenswert. Als Thriller funktioniert er tatsächlich ziemlich gut und bietet anderthalb Twists. Doch holt der Film schauspielerisch wenig heraus, weil die Figuren allesamt (mit Ausnahme von Sals Ex-Frau) keinerlei Mimik zeigen. Zugleich erweckt Sals Suche nach einer tieferen Motivation der Hackerin mehr den Eindruck, dass „Anon“ etwas zu sagen habe, als dass er ein solches Versprechen einlöst.

Leider ist die Aussage, welche der „Anon“ zum Thema totaler Überwachung macht, aus dem Spektrum der Möglichkeiten doch eine relativ grundlegende – kaum mehr als ein Gemeinplatz. Das finde ich schade.

Da sind diejenigen, die wie der Police Commissioner begeistert von der totalen Überwachung sind. Ihr Argument ist, dass nur absolute Kontrolle absolute Sicherheit biete. Dass jemand anonym bleiben will, gefährdet für sie das gesamte System. Die anonyme Hackerin hält dem ein ähnlich populäres Argument entgegen. Es wird uns als schlussendliche Lösung des Geheimnisses um ihre Motivation präsentiert:

It’s not that I’ve got something to hide. I have nothing I want you to see.

Wenn man genau hinsieht gibt uns die Hackerin in der Mitte des Films sogar noch einen Hinweis darauf, dass dieses Nicht-gesehen-werden-Wollen eher psychologische Gründe hat:

I never was happy in the […] outside world … flesh space … the part of the world that is not cyber space.

Ob das dazu passt, dass sie in Clubs geht, Drogen nimmt und Gelegenheitssex nicht abgeneigt ist, will ich mal dahingestellt sein lassen. Was definitiv nicht passt, ist, dass ihre Handlungsleitlinie „Delete fucking everything“ sie nicht davon abhält, ihre eigenen Lebenszeitaufnahmen im Ether zu verstecken.

Regisseur und Drehbuchautor Andrew Niccol

„Anon“-Regisseur und Drehbuchautor Andrew Niccol ist durch den Überwachungsklassiker „Truman Show“ bekannt, deren Drehbuch er geschrieben hat. Er zeichnet auch verantwortlich für Regie und Drehbuch des bissigen „Lord of War“ sowie „In Time“, den ich noch nicht gesehen habe.

Was mich bei „Anon“ gestört hat, ist, dass es sich Andrew Niccol nicht verkniffen hat, auf den öden Topos (oft fälschlich als Trope bezeichnet) des geschiedenen Cops mit dem toten Kind zurückgegriffen hat. Sowas muss echt nicht sein.

Es hätte so viele andere Möglichkeiten gegeben, der Hauptfigur Sal wertvolle Erinnerungen zu geben, mit deren Verlust er erpressbar ist. Das hat „Strange Days“ (Bigelow/Cameron, 1995) schon besser hinbekommen – ein Film, dem „Anon“ sehr viele Ideen verdankt, ohne an ihn heranzureichen.

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